Gemeinsames Singen anlässlich des Professjubiläums 2022
Schwestern, steht auf vom Schlaf und singt!
Der Titel ist wörtlich zu nehmen. Seit Jahrhunderten steht man in den Klöstern morgens auf, um zu singen. Erst anschliessend gibt es Frühstück.
Wir Schwestern singen gern. Das hat etwas mit unserem Lebensentscheid zu tun, denn man gerät ja nicht einfach so zufällig in ein Kloster. Man ist auf der Suche nach dem Mehr, das sich im Beten und Singen auftun kann. Wer etwas sucht, muss sich Zeit dafür nehmen. Wir nehmen uns Zeit, auch dann, wenn wir meinen, wegen der anfallenden Arbeit keine Zeit zu haben.
Jedes gemeinsame Singen und Beten lebt von einer zeitlichen und inhaltlichen Ordnung. Unsere gemeinsame Zeit ist der Morgen und der Abend. Die Inhalte kommen aus der Gebetstradition des Judentums. Aus den 150 biblischen Psalmen singen wir eine reiche Auswahl in melodischen Varianten. Es sind dies die verschiedenen Psalmtöne, erwachsen aus einer frühen christlichen Tradition. Aus den einstimmigen Gesängen hat sich in den folgenden Jahrhunderten der Choralgesang entwickelt. Unser klösterliches Singen ist in vielen Melodien von diesem Choral geprägt. Weit über das Mittelalter hinaus bis ins 20.Jahrhundert wurden diese Gesänge auf Latein gesungen. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) förderte die Übertragung in die jeweilige Muttersprache der klösterlichen Gemeinschaften.
Und dennoch: Es gibt die Gesänge, die wir immer noch gerne auf Latein singen, auch wenn uns der Textinhalt nur sinngemäss vertraut ist. Die Melodien sind so kraftvoll, so stark! Wenn man sich hineingibt, fühlt man sich getragen. Sie heben die Singenden empor, führen sie in die eigene Tiefe und wieder hinauf. Eindringlich in ihrer Eintönigkeit können sie unvermittelt zu einem Jubel aufsteigen oder zur Meditation führen. Immer geht es für die Singenden darum, sich einzuschwingen in die Melodien, am Morgen und am Abend.
Jede Schwester betritt die Kirche in ihrer eigenen Stimmung. Sie nimmt sich selbst mit, am Morgen vielleicht noch unter dem Eindruck eines schwierigen Traumes. Am Abend gilt es, die Ereignisse oder Mühen des Tages hinter sich zu lassen. Dabei verbinden uns die Psalmen mit den Generationen vergangener Jahrtausende. Sie erzählen uns von den Höhen und Tiefen der menschlichen Psyche. Nicht nur Niedergeschlagenheit und Verzweiflung ist unser Los, auch das Gute, Schöne und Erhabene geht mit uns.
So finden wir uns zusammen unter dem grossen Spannungsbogen von Psalmen, Antiphonen und Hymnen bis hin zu kirchlichen Kompositionen unserer Zeit, stets neu auf der Suche nach dem unfassbaren Mehr, wonach zeitlebens die Seele sich sehnt
Sr.Ingrid Grave
accordà Magazin der Bündner Kammerphilharmonie No.7