Adresse

Klosterweg 16, 7130 Ilanz
T +41 (0)81 926 95 00
info@klosterilanz.ch
www.klosterilanz.ch
Seite wählen

Mein Weg ins Kloster

Sr. Hele­ne Weg­ge­mann
20.06.1927

(Sr. Hele­ne erzählt eine ein­drucks­vol­le, bemer­kens­wer­te Vor­ge­schich­te, von der vor allem die jün­ge­re Gene­ra­ti­on wenig weiss. Sie will damit ver­kün­den, dass der Glau­be an die Füh­rung Got­tes und das Ver­trau­en zu ihm uns nie im Stich las­sen, auch nicht in aus­weg­lo­sen Situa­tio­nen. Sr. Armina)

Trotz mei­ner lie­ben Mut­ter, die ich nur krank kann­te, durf­te ich eine fro­he Kind­heit erle­ben. Vor allem in den fünf ersten Lebens­jah­ren nahm sich mein Gross­va­ter lie­be­voll mei­ner an. Im Kin­der­gar­ten und in den ersten Schul­jah­ren gab es vie­le Kame­ra­din­nen, die für Abwechs­lung sorg­ten. Mit der zuneh­mend schwe­ren Krank­heit der Mut­ter, die wir daheim mit Hil­fen pfleg­ten, began­nen auch für mich die Sor­gen. Lei­der hat unse­re lie­be Mama, als ich noch nicht 13 Jah­re alt war, uns für immer ver­las­sen.
Mama hat ihre Krank­heit vor­bild­lich getra­gen. Kurz vor ihrem Tode sag­te sie uns: „Vom Him­mel aus kann ich mehr für euch tun, als auf die­ser Welt!“ Damals erfuhr ich bereits, dass der Glau­be die tra­gen­de Kraft ihres Lebens war. Das war das kost­bar­ste Erbe, das mir mei­ne Mut­ter schen­ken konnte.Drei Mona­te nach Mamas Tod, muss­te Papa 1940 in den Krieg ein­rücken. Mei­ne jün­ge­re Schwe­ster und ich waren bei der Gross­mutter. Nach der Grund­schu­le durf­te ich in Bre­genz eine 3‑jährige Frau­en­be­rufs­schu­le besu­chen. Wäh­rend die­ser Zeit wur­de der Krieg immer här­ter. Die Fron­ten zogen sich zurück. Uns beweg­te die Angst: Wenn wir nur nicht den Rus­sen in die Hän­de fal­len! Da bereits eine Rei­he mei­ner 18-jäh­ri­gen Mit­schü­le­rin­nen zum Kriegs­dienst ein­ge­zo­gen wur­den, dach­te ich, ich bin bei den näch­sten. Aus die­sem Grun­de nahm ich neben dem Stu­di­um Abend­kur­se beim Roten Kreuz. 
Wie geahnt, erhielt ich in den Weih­nachts­fe­ri­en 1944/45 eine Ein­be­ru­fung zum Mili­tär und soll­te bin­nen einer Woche zur Flak­ab­wehr in Nord­deutsch­land antre­ten. Ich mel­de­te dies mei­ner Vor­ge­setz­ten vom Roten Kreuz. Sie ver­hin­der­te es und hiess mich am näch­sten Tag im Stadt­spi­tal Bre­genz den Dienst antre­ten. Sie mel­de­te mich bereits an einem kriegs­wich­ti­gen Posten. Ich war damals 17 ½  Jah­re alt. Die Kriegs­fol­gen waren auch hier sehr stark zu spü­ren. Wir waren sehr wenig Per­so­nal. Für heu­ti­ge Ver­hält­nis­se kaum vor­stell­bar. Auf jedem Stock zwei Ordens­schwe­stern und zwei Hilfs­kräf­te für 30 und mehr Pati­en­ten. Zeit­wei­se lagen noch Ver­wun­de­te auf Gän­gen und Trep­pen. Es wur­den nur Not­fäl­le auf­ge­nom­men. Dann kam ein Flücht­lings­trans­port mit Kran­ken. Dann haben eng­li­sche Tief­flie­ger am hel­len Vor­mit­tag auf die ein­hei­mi­sche Bevöl­ke­rung, in den Stras­sen und am Bahn­hof mit Maschi­nen­ge­weh­ren in einen ste­hen­den Zug hin­ein­ge­schos­sen. Es gab vie­le Tote und Ver­wun­de­te. 
Die Kriegs­front kam immer näher. In den Hotels von Bre­genz lagen vie­le ver­wun­de­te Sol­da­ten. Die Dächer waren alle mit dem „Roten Kreuz“ gezeich­net. Es hiess: Bre­genz ist Laza­ret­stadt und unter­steht dem Roten Kreuz. Der Schwei­zer Kon­sul hat­te dies aus­ge­han­delt. Doch plötz­lich am 30. April 1945, abends 22.00 Uhr, erhiel­ten die Bevöl­ke­rung und wir im Spi­tal, Mit­tei­lung: „Bre­genz wird vom Feind nicht als Laza­ret­stadt aner­kannt. Nachts um 24.00 Uhr erfolgt ein Bom­ben­an­griff.“ „Ret­te, wer sich ret­ten kann, in den gros­sen Bun­ker, einem gros­sen Tun­nel am Berg­hang, nahe dem Spi­tal!“ Ich sah, wie die Bevöl­ke­rung und vie­le ver­wun­de­te ein­hei­mi­sche Sol­da­ten, soweit die­se sich bewe­gen konn­ten, dem gros­sen Tun­nel zuströmten.

Im Spi­tal hat­ten wir bereits vor zwei Tagen die Kran­ken in den gros­sen Spi­tal­kel­ler beför­dert. Dort lagen sie Matrat­ze an Matrat­ze. In der gefähr­li­chen letz­ten Stun­de vor dem Bom­ben­an­griff war es ganz still gewor­den. Jeder war mit sich selbst beschäf­tigt. Da hör­ten wir plötz­lich über uns beten und sin­gen. Über dem Spi­tal­kel­ler lag die Kapel­le. Die Ordens­schwe­stern des Spi­tals waren nicht geflüch­tet. Sie bete­ten. Das wirk­te sehr beru­hi­gend auf die Pati­en­ten. Ich dach­te damals, das sei unver­ant­wort­lich, dass sie dort geblie­ben sind und sich nicht auch sel­ber mehr in Sicher­heit brach­ten. Heu­te den­ke ich anders!
Ich sass damals auf der Ecke einer Matrat­ze zwi­schen den Pati­en­ten mit dem Arzt und einem Sani­tä­ter. Da ich mei­ne Tasche und etwas Papier bei mir hat­te, schrieb ich einen Brief an mei­ne Ange­hö­ri­gen, im Fal­le, dass ich ster­ben wer­de und jemand den Brief fän­de. In die­ser lebens­ge­fähr­li­chen Situa­ti­on hat­te ich wohl Angst, aber mir kam das Wort Jesu in den Sinn: „Was ihr dem Gering­sten mei­ner Brü­der tut, das habt ihr mir getan!“ Das gab mir, trotz allem, ein gutes Gefühl und ich dach­te: Wenn ich im Dien­ste der Mit­men­schen ste­he, kann ich auch vor Gott bestehen. Die­se Lebens­er­fah­rung beglei­tet mich das Leben hin­durch und macht mich inner­lich froh! Nachts, um 24.00 Uhr, hör­ten wir dann die Bom­ben fal­len. Die Innen­stadt von Bre­genz brann­te lich­ter­loh. Das Spi­tal am Stadt­rand aber war ver­schont geblie­ben. Die Bevöl­ke­rung im Bun­ker war mit dem Leben davongekommen.

Nach dem Krieg besuch­te ich die Bäue­rin­nen­schu­le in Schruns-Gau­en­stein, die von den Ilanzer Domi­ni­ka­ne­rin­nen gelei­tet wur­de. Wir Schü­le­rin­nen waren damals durch­schnitt­lich zwi­schen 18–22 Jah­ren. Eine Schwe­ster gab uns Unter­richt in Lebens­kun­de. Die­se Unter­richts­stun­den waren prä­gend für uns und wohl die wert­voll­sten. Ein­mal beka­men wir die Auf­ga­be, einen Auf­satz zu schrei­ben zum The­ma:  „Wo fin­de ich das wah­re Glück?“ Drei Wochen Zeit, Mini­mum drei Sei­ten! Zuerst war ich ver­är­gert, über so ein per­sön­li­ches The­ma einen Auf­satz schrei­ben zu müs­sen. Es reg­te uns aber sicher zum Nach­den­ken an und die­se Fra­ge ist wohl die ent­schei­den­de Fra­ge des Lebens gewor­den. 
Ich wünsch­te mir eine gros­se Lie­be.
–  Eine Lie­be, die mir immer treu bleibt
–  Eine Lie­be, die mich nie ent­täuscht
–  Eine Lie­be, die mir ande­re nicht zer­stö­ren kön­nen.
Kann ein Mensch die­sen Wunsch erfül­len? Drei Jah­re lang habe ich in der dama­li­gen Nach­kriegs­zeit bei den Ilanzer Schwe­stern in ver­schie­de­nen Auf­ga­ben­be­rei­chen gear­bei­tet. Dabei lern­te ich die Schwe­stern und ihre viel­sei­ti­gen, sozia­len Auf­ga­ben­ge­bie­te näher ken­nen. Die ver­schie­de­nen Prak­ti­ken waren im spä­te­ren Leben sehr nütz­lich für mich.
Mit 22 Jah­ren ent­schloss ich mich, in Ilanz um Auf­nah­me zu bit­ten und begann das Novi­zi­at. Ich fand eine sehr erfül­len­de Lebens­auf­ga­be im Dien­ste Got­tes und der Mit­men­schen, vor allem der Jugend­li­chen. Das Leben war nicht immer leicht, aber alle Füh­run­gen und Fügun­gen waren auf das Ziel hin­füh­rend, was man oft erst spä­ter erkennt. Heu­te, mit über 79 Jah­ren, darf ich sagen: Gott war mir immer zur Sei­te. Beson­ders jetzt im Alter füh­le ich mich in Gott und in der Gemein­schaft gebor­gen; bin dank­bar, glück­lich und zufrieden.Glücklich ist, wer mit sei­nem Glück zufrie­den ist.

Sr. Hele­ne Weggemann

Ilanz, im Jahr der Beru­fung, 2016